Trampelpfade

14.08.2010

Ankowitsch: Herr Prof. Helbing, Sie haben die Entstehung von Trampelpfaden erforscht. Wie kommt man als Wissenschaftler auf die Idee, sich mit einem derart exotischen Thema zu beschäftigen?

Helbing: Das ist kein exotisches Thema, ganz im Gegenteil! An Trampelpfaden lässt sich beispielhaft untersuchen, wie sich Systeme selbst organisieren. In diesem Fall geht es um die Frage, wie Menschen gemeinsam etwas Sinnvolles schaffen, ohne sich gegenseitig abzusprechen.

A: Aber Sie werden nicht eines Tages ins Büro gegangen sein und sich gedacht haben: Ab heute widme ich mich Trampelpfaden.

H: Sie werden lachen, aber genau so war es: Aus meinem Fenster an der Stuttgarter Uni habe ich jeden Tag auf ein ziemlich auffälliges Trampelpfadsystem geschaut. Es hat sich also aufgedrängt. Aber es gab natürlich einen Anstoss: Architekten um Frei Otto und Klaus Humpert haben uns im Rahmen eines großen gemeinsamen Forschungsprojektes inspiriert zu erforschen, wie Wegesysteme entstehen.

A: Welche Erkenntnisse konnten Sie beisteuern?

H: Dass Trampelpfade in zwei Fällen entstehen: Wenn Wege gänzlich fehlen ? oder Menschen das Gefühl haben, dass die vorhandenen nicht gut genug sind.

A: Geht es den Menschen immer darum, möglichst schnell ans Ziel zu gelangen?

H: Nicht unbedingt. Sie suchen zwar prinzipiell Abkürzungen, aber sie wählen nicht immer die kürzeste Verbindung zwischen Ausgangspunkt und Ziel. Bisweilen machen sie auch Umwege.

A: Weil sie sich verlaufen?

H: Nein, aus einem viel interessanteren Grund: Trampelpfade müssen ja unterhalten werden wie normale Wege auch; wenn man sie zu selten benutzt, verschwinden sie wieder unter Gras und Gestrüpp. Daher kann es sinnvoll sein, wenn sich Menschen, die am selben Ort starten, aber zu verschiedenen Zielen wollen, einen Teil des Weges teilen.

A: Das geht doch zwangsläufig auf Kosten einer Gruppe.

H: Überraschenderweise nein. Trampelpfade haben die Tendenz, fair zu sein und allen den gleichen relativen Umweg zuzumuten.

A: Wie weit reicht denn die Kompromissbereitschaft?

H: Erst wenn die Gesamtstrecke durch den Umweg 20 bis 30 Prozent länger wird, beginnen Menschen, eigene Pfade zu bahnen. Darin sind sie sehr konsequent, denn sie tun das auch bei Strecken, die bloß zehn Meter lang sind. So entstehen ganz erstaunliche Mini-Abkürzungen, wie Sie sie in Parks sehen können, wo Menschen lieber vier Schritte durch die Wiese gehen, als einen etwas längeren Weg zu nehmen.

A: Gibt es einen klassischen Typ, der Trampelpfade begründet? Individualisten? Anarchisten?

H: Das könnte vermutlich jeder von uns sein ? man muss es nur eilig genug haben, und schon rennt man quer durchs Gelände, anstatt auf dem vorgesehenen Weg zu bleiben. Auf diese Weise hinterlässt man eine Spur, die wiederum das Verhalten anderer beeinflusst.

A: Weil diese Spur den anderen verspricht: Mir nach, hier geht es schneller?

H: Richtig, diese Spur entwickelt einen ?Attraktionseffekt?, wie wir das nennen, sie zieht weitere Menschen an. Womit ein Rückkopplungseffekt entsteht: Der Mensch verändert die Umwelt, die wiederum das Verhalten der Menschen verändert und immer so fort.

A: Wie würden Sie das Ergebnis dieses kleinen Kreisverkehrs nennen?

H: Trampelpfade sind ein wunderbares Beispiel für ein sich spontan bildendes Gemeingut: Es nützt allen und entsteht, ohne dass Menschen direkt miteinander interagieren müssen.

A: Ist Ihnen ein besonders eindrucksvolles Beispiel in Erinnerung geblieben?

H: Wir haben zwar jede Menge tolle Trampelpfade fotografiert, aber ich habe mich dann letztlich immer auf Detailfragen konzentriert wie zum Beispiel: Was geschieht, wenn zwei Pfade aufeinander treffen. Was glauben Sie, was geschieht?

A: Wenn Sie so fragen, sicher irgendetwas Aussergewöhnliches.

H: Bevor einer der Wege auf den anderen trifft, beginnt er sich zu teilen und bildet so eine Y-förmige Kreuzung. Diese menschliche Eigenart wird aber von Städteplanern nicht ernst genommen, und dann wundern sie sich, dass die Leute ihre Wege verlassen. Dabei wäre es sehr leicht, organische Lösungen zu finden, die dem natürlichen Verhalten von Fußgängern entsprechen.

A: Ah, ich dachte, Trampelpfade könnten nur anarchistisch entstehen. Sie sind also offensichtlich planbar.

H: Es gibt mittlerweile Stadtplaner, die keine Wegesysteme mehr vorgeben, sondern die entsprechenden Flächen frei lassen. Sie sehen einfach zu, welche Trampelpfade sich entwickeln, um sich daran zu orientieren. Man kann das aber auch aufgrund unserer Erkenntnisse am Computer simulieren.

A: Sind denn Trampelpfade ein städtisches Phänomen, so nach dem Motto: Wie kann ich bloß wieder zehn Sekunden Zeit gewinnen?

H: Keinesfalls. Viele der heutigen Strassen in Europa und den USA folgen alten Handelswegen, die ursprünglich Trampelpfade waren; sie setzen sich aus regionalen Pfaden zusammen, die die Menschen bahnten, indem sie sich an Berggipfeln oder Flüssen orientierten.

A: Und der Jakobsweg, dem Hape Kerkeling nach Santiago de Compostela gefolgt ist ? auch ein klassischer Trampelpfad?

H: Mit dem habe ich mich zwar noch nicht wissenschaftlich beschäftigt, aber ich gehe davon aus, dass wir ihn dazu zählen können.

A: Dieser Pfad hat eine Länge von rund 800 Kilometern: Es muss doch jemanden gegeben haben, der den Masterplan dafür entwickelt hat.

H: Wo Menschen zusammenwirken, entsteht Selbstorganisation; das wirkt tatsächlich, als sei eine unsichtbare Hand im Spiel. In Wirklichkeit wird der Weg aber sicher so entstanden sein, wie vorhin beschrieben: Ein Mensch hinterlässt eine Spur im Gelände, ein anderer folgt ihr, bis am Schluss ein hochkomplexes Wegesystem entstanden ist ? ganz von selber. Die Systemtheorie nennt dieses Phänomen ?Emergenz?.

A: Das heisst: Wir Menschen wirken an Dingen mit, ohne eine Idee davon zu haben, wie groß und beeindruckend sie sich schliesslich entwickeln?

H: Richtig ? und wir sind dabei auch noch für einige Überraschungen gut. Nehmen Sie nur die Fähigkeit von Fußgängern, sich selbst zu organisieren: Nicht nur, dass sie voneinander getrennte Bahnen einheitlicher Gehrichtungen herausbilden, um schneller voran zu kommen. Wenn sich zwei Fußgängerströme kreuzen, bilden sie Streifenmuster, die es beiden Strömen erlauben, einander zu durchdringen, ohne dass die Fußgänger stoppen müssen.

A: Ist das einer jener Momente, in denen wir von kollektiver Intelligenz sprechen können?

H: Ich denke, ja ? Sie dürfen nur keine allgemein gültige Regel daraus ableiten. Der Straßenverkehr organisiert sich ebenfalls selbst, ist dabei aber nicht immer effektiv; oft kommt es zu Staus.

A: Gibt es eigentlich auch Trampelpfade, die scheitern? Die Menschen ins Verderben führen?

H: Mir fällt spontan kein Beispiel dafür ein. Aber bei Fußgängerströmen kann so etwas geschehen, wie die tragischen Ereignisse von Mekka zeigten, wo 2006 mehr als 300 Pilger starben, oder bei der Loveparade in Duisburg, wo 21 Leute zu Tode kamen.

A: Verlaufen solche Katastrophen nach erkennbaren Regeln?

H: Sie können verschiedene Auslöser haben: Wenn an einem Platz einfach zu viele Menschen zusammenströmen und sie eine enge Stelle passieren müssen oder etwas Unvorhergesehenes passiert. Das Resultat ist aber stets das gleiche: Die Menschen können sich nicht mehr fließend vorwärts bewegen, sondern nur mehr ruckartig; sie müssen stehen bleiben, auf Lücken warten, um weiter zu kommen, dann wieder stoppen und so fort. Wenn also der Fluss zusammenbricht und weitere Menschen hinzuströmen, entsteht in der Menge allmählich ein unerträglich großer Druck. Die Folge sind sogenannte ?Crowd Turbulences?, wie wir das nennen, also Massenturbulenzen.

A: Wie sehen die aus?

H: Der einzelne ist dann zwischen den anderen eingezwängt; so können sich die Kräfte von einer Person zur anderen übertragen. Das Problem dabei ist: Der Druck innerhalb der Menschenmenge summiert sich, kann also extreme Werte annehmen.

A: Wie fühlt sich das für den einzelnen an?

H: Grässlich! Im schlimmsten Fall haben die Menschen das Gefühl, als würde ihnen ein Auto auf dem Brustkorb liegen. Es hat uns nicht überrascht, dass alle zwanzig Opfer von Duisburg an Brustquetschungen starben.

A: Hat man als einzelner eine Chance, sich aus einer solchen Situation zu befreien?

H: Kaum. Man wird wie ein Spielball hin und her gestossen, weil der Druck innerhalb der Masse ständig seine Richtung und Stärke ändert. Es fällt ungemein schwer, sich auf den Beinen zu halten; wer zu Boden fällt, läuft Gefahr, von den anderen totgetrampelt zu werden, wie das in Mina bei Mekka geschehen ist. Die Leute machen das nicht mit Absicht oder aus Achtlosigkeit; sie haben einfach nicht mehr genügend Kontrolle über Ihre Bewegungen. Das ist für alle Beteiligten ein traumatisches Erlebnis.

A: Gibt es Mittel, solche Massenturbulenzen zu stoppen?

H: Praktisch nicht. Wenn sie sich erst einmal eingestellt haben, ist es zu spät. Dann können auch zahlreiche Sicherheitskräfte kaum noch etwas ausrichten. Die einzige Chance besteht darin, vorzusorgen. Ich versuche seit vielen Jahren, ein entsprechendes öffentliches Bewusstsein zu schaffen. Es ist doch seltsam: Wir testen und simulieren alles Mögliche, von Autos und Flugzeugen bis zu Elektrogeräten, Medikamenten und Atomtechnik. Geht es jedoch um wirtschaftliche und soziale Systeme, geschieht das so gut wie nicht.

A: Was könnte man denn konkret unternehmen?

H: Wir könnten mit Hilfe von Computern simulieren, wie sich Besucher einer Massenveranstaltung auf einem konkreten Gelände verhalten, wo sich Engstellen befinden, oder was geschieht, wenn es zu einem Unwetter kommt. Bei mehr als einer Million Menschen erfordert das zwar einen ziemlich großen Aufwand, aber Menschenleben müssen uns das wert sein. Im Prinzip wäre es in einigen Jahren sogar möglich, mit Supercomputern noch viel komplizierte Problemstellungen zu simulieren, wie etwa die Finanz- oder Wirtschaftskrise.

A: Zurück zu den Trampelpfaden: Wir gehen die ganze Zeit stillschweigend davon aus, dass es sich um eine positive menschliche Eigenart handelt, den Spuren anderer zu folgen. Man könnte das auch negativ bewerten: Der Mensch hat einen Hang zum Herdentier.

H: Dieser Hang ist sehr stark ausgeprägt, richtig. Wir haben dazu ein Experiment gemacht und Menschen gebeten zu schätzen, wie viele Raubüberfälle es in der Schweiz in einem bestimmten Jahr gegeben hat. Sie sollten also Fakten schätzen, die ungefähr bekannt sind. Entweder mussten sie das unabhängig von einander tun, oder sie wurden über die Schätzungen der anderen informiert.

A: Und wie stand es in diesem Fall um die kollektive Intelligenz?

H: Sie ist eine zweischneidige Sache. Erst gaben die Versuchtsteilnehmer sehr unterschiedliche Schätzungen ab, aber der Mittelwert traf die Fakten gut; sobald sie aber Informationen über die Schätzungen der anderen erhielten, glichen sie ihre Schätzungen aneinander an. Tragischerweise lag das relevante Meinungsspektrum oft daneben.

A: Das heißt: Gruppen können uns blöd machen?

H: Sie drücken das ein wenig drastisch aus, aber es besteht die Gefahr, dass sie in die Irre führen. Was besonders fatal ist, weil ja heute die meisten politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen in Gremien getroffen werden. Die Mitglieder dieser Gruppen glauben dann richtig zu liegen, weil sie einen Konsens erzielt haben, vergessen dabei aber, dass man gemeinsam daneben liegen kann. Die Entstehung der Finanzkrise ist ein gutes Beispiel dafür.

A: Ist das Phänomen von Trampelpfaden auf andere Bereiche übertragbar? Auf das Internet zum Beispiel?

H: Durchaus. Das Netz stellt ja ebenfalls eine Welt dar, in der einzelne Menschen Spuren hinterlassen ? Datenspuren in Form von Fotos, Kommentaren oder Ratings. Andere Menschen folgen diesen Spuren, indem sie sich an den artikulierten Interessen und Meinungen orientieren.

A: Und Facebook ist so eine Art Jakobsweg durchs Netz?

H: Den Vergleich haben Sie gezogen. Aber Facebook ist zweifellos ein besonders vielbenutztes Trampelpfadsystem im World Wide Web. Durch den ?Gefällt mir?-Button und andere Funktionen können Nutzer überall ihre Spuren hinterlassen.

A: Haben die Menschen in der realen und virtuellen Welt die gleichen Motive, Trampelpfaden zu folgen?

H: Ich denke, das haben sie. Im einen Fall nehmen die Leute Abkürzungen, um schneller voran zu kommen, im anderen suchen sie Anhaltspunkte, um rascher Entscheidungen treffen zu können.

A: In der realen Welt sind Trampelpfade davon bedroht, wieder von der Natur überwuchert zu werden. Wogegen müssen virtuelle Trampelpfade verteidigt werden?

H: Gegen die ständig zunehmenden Datenmengen. Die bilden ein wucherndes, urwaldartiges Dickicht, das auch die leistungsfähigsten Algorithmen nur mehr schwer durchdringen können ? ganz zu schweigen von uns Menschen.

A: Klingt beängstigend. Welche Art von Machete empfehlen Sie dagegen?

H: Das größte Problem des Internet besteht darin, dass es sich alles merkt. Was auch immer Sie veröffentlichen, es wird dauerhaft gespeichert. Unsere einzige Chance besteht darin, Daten mit einem Verfallsdatum zu versehen; haben sie es erreicht, löschen sie sich. Wir sollten also dem Internet das Vergessen beibringen.

A: Aber es gilt doch als erstrebenswert, sich möglichst viel zu merken.

H: Wenn eine Gesellschaft ihre Mitglieder integrieren will, muss sie vergessen können. Wer gegen soziale Normen verstossen hat und bereut, muss eine faire Chance auf einen Neuanfang haben, sonst ist eine Rehabilitation unmöglich.

A: Jetzt sind wir aber ziemlich vom Weg abgekommen mit unserem Gespräch.

H: Nicht unbedingt. Das Vergessen spielt bei Trampelpfaden eine ebenso große Rolle wie in der Gesellschaft. In ersterem Fall ?vergisst? die Natur unnötig gewordene Pfade, während die bewährten Wege bleiben. In der Gesellschaft fördert es menschliche Kooperation.

A: Was müssen wir denn vergessen, um zusammenzuarbeiten?

H: Die Vergangenheit. Wenn sich unsere Erwartungen ständig am schönsten Tag unseres Lebens orientieren würden, dann wären wir nie zufrieden mit unseren Freunden, Nachbarn und Kollegen; wir wären ständig auf der Suche nach einer besseren Welt. Kooperation entsteht jedoch durch wiederholte Interaktion, d.h. mit Partnern, die sich bewährt haben.

A: Was kann man noch von der Trampelpfadforschung lernen?

H: Dass Menschen bereit sind, ein gewisses Mass an Ineffizienz zu tolerieren. Wir haben ja vorhin davon gesprochen, in welchem Ausmass Menschen Umwege akzeptieren, um gemeinsam einen Trampelpfad zu pflegen. Diesen ominösen 20 bis 30 Prozent bin ich in den unterschiedlichsten Kontexten begegnet und halte sie daher für eine menschliche Konstante.

A: Und auf welchen Bereich liesse sich diese Erkenntnis anwenden?

H: Auf die Steuergesetzgebung zum Beispiel. Ich glaube, dass der ideale Fixsteuersatz maximal 30 Prozent beträgt. Hier liegt wohl die Schmerzgrenze. Alles, was darüber hinausgeht, tut den Menschen weh. Es würde mich daher nicht wundern, wenn in diesem Fall der eine oder andere eine Abkürzung durchs Dickicht der Steuergesetzgebung nimmt.

A: Und was können wir aus der Bereitschaft der Menschen lernen, im gemeinsamen Interesse kleine Umwege zu akzeptieren?

H: Auch hier zeigt sich an Trampelpfaden etwas sehr Grundsätzliches: Wir Menschen sind dazu fähig, uns anzupassen, Kompromisse zu schliessen und faire Lösungen zu finden.

A: Das widerspricht aber der Theorie der Wirtschaftswissenschaftler, die den Egoismus der Menschen als einzige treibende Kraft bezeichnen.

H: Viele Experimente haben gezeigt, dass die Mehrzahl der Menschen nicht nur auf ihren eigenen Vorteil achten, sondern auch die Interessen der anderen berücksichtigen. Wir haben also eine Neigung zu kooperieren.

A: So gut ist der Mensch?

H: Man muss natürlich differenzieren, aber Menschen sind es gewohnt, gemeinsam etwas zu erschaffen, sogenannte Allgemeingüter. Beispielsweise Straßen und Schulen oder die Sprache, Normen und Kultur, die wir teilen. All das bildet die Basis unserer Gesellschaft.

A: Ist diese Basis nicht ziemlich brüchig? Denken Sie nur an Griechenland.

H: Dort ist offensichtlich die Steuermoral zusammengebrochen, ja; man nennt das in der Wissenschaft die Tragödie der Allgemeingüter. Aber die entscheidende Frage lautet: Wieso bricht unser Sozialsystem nicht ständig zusammen? Wie kommt es zu sozialer Kooperation? Die Antwort: Kooperation entsteht zum Beispiel, wenn wir mit Menschen zu tun haben, denen wir immer wieder begegnen, Freunden, Kollegen ? so nach dem Motto: Man sieht sich immer mehrmals im Leben.

A: Aber wie wird aus der Nachbarschaftshilfe so etwas wie Allgemeingüter?

H: Genau so wie aus der Spur eines einzelnen Menschen ein Trampelpfad wird: Es bilden sich Gruppen von kooperativen Menschen, die einander in ihrer Haltung stabilisieren. Ausserdem entstehen in sozialen Netzwerken Reputationseffekte: Besonders kooperative Menschen steigen in der allgemeinen Achtung, nichtkooperatives Verhalten wird sanktioniert.

A: Haben Sie sich während der WM Fußballspiele angesehen?

H: Ja, zum Teil.

A: Was zeichnet gute Mannschaften aus?

H: Dass sie ausgetretene spielerische Pfade meiden; die Spielzüge müssen möglichst wenig vorhersagbar sein. Gute Mannschaften sind dazu in der Lage, adaptiv zu spielen, also anpassungsfähig zu sein und schnell zwischen bestimmten Taktiken hin- und herzuwechseln.

A: Warum haben die Deutschen bei der WM so brillant gegen Argentinien gespielt?

H: Dazu kann ich leider nichts sagen. Ich war auf einer Dienstreise

A: Schade, sonst hätten Sie jetzt die These vertreten können, dass es die große Qualität der Deutschen ist, einen wunderbaren Anti-Trampelpfad-Fußball zu spielen.

H: Ja, das hätte ich. Und zwar nur zu gerne.

Der Physiker und Mathematiker Dirk Helbing, 45, ist seit 2007 an der ETH Zürich Professor für Soziologie, mit den Schwerpunkten Modellierung und Simulation. Zuvor leitete er das Institut für Transport und Wirtschaft an der TU Dresden. Er veröffentlichte mehr als 200 wissenschaftliche Arbeiten und Artikel – über die Entstehung von Trampelpfaden ebenso wie über das Verhalten von Menschenmassen, Katastrophenmanagement bis hin zu Logistikfragen in biologischen Systemen.

Anm.: Eine gekürzte Fassung des Gesprächs ist im Magazin der Süddeutschen vom 13. August 2010 erschienen.

Weitere News

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.