Lieber H.E.

29.06.2012

mir ist bewusst, dass es ein wenig ungewöhnlich ist, einen Brief an jenen Mann zu schreiben, mit dem mich nicht mehr verbindet als der Umstand, dass er alle paar Monate nach unserem Auto gesehen hat, einen mittlerweile 14 Jahre alten Mercedes Kombi. Und das seit rund fünf Jahren. Sie wurden uns von einem befreundeten Paar empfohlen. Für den Fall, dass wir einen versierten Mechaniker suchten.

Wir suchten keinen, aber brauchten dann bald einen. Das Übliche: Winterreifen. Service. TÜV. Geklauter Stern.

Als wir einander zum ersten Mal trafen, hatten Sie Ihre Werkstatt noch im Wedding. Um zu Ihnen zu kommen, musste man sich durch eine enge Durchfahrt quälen. Auf dem Hinterhof dann das klassische Durcheinander kleiner Werkstätten. Zeug, von dem ich nicht viel verstehe. Wracks. Halbfertiges. Ausschlachtbares. Vergessenes. Rostendes. In der Werkstätte eine nur für den Kenner sichtbare Ordnung. Für mich ein heilloses Durcheinander.

Was unsere Treffen (und nicht nur unsere) bemerkenswert machte, war weniger Ihre Fachkenntnis. Die verstand sich von selber. Sie horchten ein wenig in das Auto hinein und sagten dann, was kaputt sei. Und das war es dann auch. Sie gingen einmal rund herum und sagten dann, dass es unter dem Griff der Heckklappe bald eine Roststelle geben werde, eine klassische Schwachstelle dieser Baureihe. Und so war es dann auch. Sie erklärten mir, welche Motoren welcher Typen wie ausgereift seien undsofort. Das ganze enzyklopädische Wissen eines Kenners eben, das ein Ahnungsloser wie ich nicht würdigen kann.

Nein, das war es nicht, was die Treffen mit Ihnen bemerkenswert machte. Es war Ihr winziges, halbdunkles Büro, in dem eine Filterkaffeemaschine stand, auf Dauerbetrieb. In dem angebrochene Packungen mit Speck und Mayonnaisesalat standen. Kartons mit Eiern, die sie besorgt hatten, um sie weiter zu verkaufen. Unzählige Ersatzteile herumlagen. Ein alter Computer stand. Ein speckiger Stuhl. Ein übervoller Aschenbecher (später dann nicht mehr, weil Sie sich schlagartig das Rauchen abgewöhnt hatten, nachdem Sie eines Morgens Blut gespuckt hatten ? was Sie vor Ihrer Frau zu verheimlichen wussten).

Vor allem aber waren es Ihre nicht enden wollenden Geschichten, die Sie erzählten. Eine aberwitziger als die andere. Und alle von archaischer Wucht. Sie alle drehten sich darum, wie man überlebt. Wie man in einem Stadtteil wie dem Wedding Geschäfte machen kann. Kleine Geschäfte, welche sonst. Welchen Leuten welcher Herkunft man trauen könne und welchen keinesfalls. Wie man sich an jenen rächen könne, die glauben, einen bei einem Autogeschäft übers Ohr hauen zu können. Wie man selber reingelegt worden sei und keine Chance gehabt habe, etwas dagegen zu tun. Wie man seine Familie mit durchschleppen muss. Wenn die Kinder sehenden Auges Unsinn machen und sich bei Ihnen Geld borgen und Sie es ihnen geben müssen, weil sonst der Geschäftspartner kommt. Ein Geschäftspartner, der weiss, wie man Menschen an ihre Zahlungspflichten erinnert. Mit brachialen Methoden.

Einmal erzählten Sie von Ihrer kleinen Waffensammlung. Und als ich ? wie so oft ? einwandte, das seien doch alles Märchen, die Sie Ihren gutgläubigen Kunden erzählen könnten, aber nicht mir, fischten Sie Ihren Waffenschein heraus. Und jede einzelne Smith&Wesson, von der Sie erzählt hatten, stand da drauf. Ich bin ein ängstlicher Mensch, vor allem was Waffen anlangt (Zivildiener). Aber eigenartigerweise fand ich es völlig in Ordnung, dass irgendwo in einer Berliner Wohnung all das Zeug herumstand, sorgsam in Waffenschränken weggesperrt. Dabei sahen Sie auf den ersten Blick nicht wirklich sanftmütig aus: Gross, die Augen stets zu schmalen Schlitzen verengt, blonder Schnurrbarrt, wuchtig, laut, Berlinerisch. „Da sehen Sie mal, Herr Doktor!“, sagten sie gerne und lachten laut, wenn Sie wieder einmal eine Geschichte zuende gebracht hatten.

Die Geschichte, die ich mir am besten gemerkt habe, handelte davon, wie Sie sich im vergangenen Sommer mit Ihrer Frau in Ihren sehr grossen Mercedes (ich wieder, irgendeine S-Klasse, glaube ich) gesetzt hatten, um in die Bretagne zu fahren, ans Meer. In die Sonne. Als Sie dort angekommen seien, habe es geregnet. Also seien Sie einfach weiter gefahren, immer weiter in Richtung Süden. „Irgendwann musste diese verdammte Somme ja kommen“, sagten Sie damals. Aber Sie kam nicht. Nicht in Mittelfrankreich. Auch nicht an der Côte d?Azur. Eine ganze Woche habe diese Reise gedauert, aber überall Regenregenregen. Also seien Sie schliesslich nach einer Woche wieder nach Hause gefahren, in einem Rutsch, die ganze lange Strecke. „Da sehen Sie mal, Herr Doktor!“

Heute habe ich unseren Mercedes wieder einmal zum Service gebracht. Ferien. Da hat mir Ihr Schwiegersohn befohlen, mich in Ihr Büro zu setzen. „Da, setzen Sie sich hin!“ Ich ahnte irgendetwas, denn das Büro war ein bisschen umgestellt. Da sass ich dann. Und hörte zu. Am Montag vor einer Woche seien Sie morgens aufgestanden und hätten wegen Ihrer Atemnot den Notzarzt gerufen. Der sei gekommen. Dann habe man Sie zweimal stundenlang operiert. Im Wedding. Am Freitag vergangener Woche seien Sie dann gestorben, ohne das Bewussein wiedererlangt zu haben. Ihre Familie habe sich die Woche, die Sie im Krankenhaus gelegen seien, jeden Abend um 19:00 getroffen, um Sie zu besuchen. So auch am vergangenen Freitag. Da sie ein wenig zu früh dran gewesen seien, hätten sie noch ein wenig vor dem Krankenhaus gewartet, bis es 19:00 Uhr gewesen sei. Da seien sie alle rein. Eine Viertelstunde zu spät. 64 Jahre alt geworden sind Sie.

Lieber H.E., mir ist bewusst, dass es ein wenig ungewöhnlich ist, einen Brief an jenen Mann zu schreiben, mit dem mich nicht mehr verbindet als der Umstand, dass er alle paar Monate nach unserem Auto gesehen hat, einen mittlerweile 14 Jahre alten Mercedes Kombi. Und das seit rund fünf Jahren. Aber als ich heute das kleine, dunkle Büro verliess und zur Bushaltestelle ging, musste ich plötzlich heulen. Ich weiss, was Sie gesagt hätten: „Da sehen Sie mal, Herr Doktor!“ Irgendsowas.

Ich weiss ja auch nicht. Mit den besten Grüssen,

Ihr Dr. A.

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