Der Fehler liegt im System
27.06.2012
Abstürzende Aktienkurse, unerwartete Revolutionen und schreckliche Crowd Desaster: Der Zürcher Soziologe Dirk Helbing über die Eigendynamik von Systemen.
Frage: Professor Helbing, wir genießen zurzeit die Fußball-EM und freuen uns auf die Olympischen Spiele 2012. Sind unsere Stadien sicher?
Dirk Helbing: So weit ich weiß, haben sich die Verantwortlichen auf diese Veranstaltungen auf internationalen Workshops sorgfältig vorbereitet, bei denen sie die Lehren aus Katastrophen wie zum Beispiel die in Brüssels Heysel Stadium diskutiert haben. Allerdings bleibt immer ein Restrisiko, wenn sich große Menschenmengen zusammenfinden.
Sie haben gerade eine empirsche Studie zum Unglück bei der Love Parade in Duisburg, am 24. Juli 2010, bei der 21 Menschen starben und mehr als 500 verletzt wurden, fertiggestellt. Wer trägt die Schuld?
Helbing: Unsere Studie analysiert, wie Dinge total außer Kontrolle geraten können, aber sie klärt nicht, wer die gesetzliche Verantwortung trägt. Wenn etwas schief läuft, suchen Menschen oft nach einem Sündenbock; sie neigen dazu Sachen zu personalisieren. Natürlich behaupten wir nicht, dass auf individueller oder institutioneller Ebene keine Fehler gemacht wurden, aber unsere Studie fokussiert auf die systemischen Fehler, die zu Massenpaniken führen. Wir untersuchen warum und wie es zu Massenpaniken kommt, obgleich niemand niemandem schaden möchte.
Wie ist das möglich?
Helbing: Lassen Sie uns dazu ein anderes Beispiel ansehen: Am 6. Mai 2010 wurden die Finanzmärkte durch einen so genannten ?flash crash? (Blitz-Unfall) erschüttert. Innerhalb von nur 20 Minuten, verwandelten sich viele ?solid assets? (feste Vermögen) in ?penny stocks? (Kleinaktien). Aktienwerte im Wert von 600 Milliarden Dollar verflüchtigten sich. Die Eigentümerstruktur von Firmen veränderte sich innerhalb von Minuten. Am Anfang dachten Leute, dass es sich um das Ergebnis eines Verbrechens handelt.
Und was war der eigentliche Grund?
Helbing: Es stellte sich heraus, dass es sich um eine ?interaction effect? (Wechselwirkungswirkung) von automatisierten Handelstransaktionen handelte, die von einem Computerprogramm ausgeführt wurden. Eine größere Verkaufsaktion veranlasste das Computerprogramm dazu, auch zu verkaufen. Das hatte Kaskadeneffekte zur Folge, die von menschlichen Händlern nicht analysiert werden und auf die nicht schnell genug reagiert werden konnten. Tatsächlich war es so, dass es zu lange dauerte zu analysieren, was genau vor sich ging.
Genau wie bei dem Unglück bei der Love Parade in Duisburg, die die Öffentlichkeit vor zwei Jahren schockierte. Im ersten Moment glaubten einige Leute daran, dass es sich bei den Toten um Opfer eines Bombenanschlags handelte. Später wurde behauptet, dass das Verhalten der Leute außer Kontrolle geraten war; dass sie das Festivalgelände gestürmt hatten, indem sie Absperrungen überwanden und Laternenmasten hochkletterten und die engen Treppenaufgänge nutzten. Außerdem wurde geglaubt, dass es zu den Todesfällen kam, weil einige Menschen in die Menschenmenge fielen.
Helbing: All das führte allerdings nicht zu der Katastrophe. Häufiger Irrtum ist, dass Massenpaniken das Resultat ausbrechender Panik ist, die die panische Flucht von Massen auslöst. Aber das würde bedeuten, dass sie die Opfer der Katastrophe dafür verantwortlich machen würden. Diese Absurdität zeigt, dass wir absolut irreführende Vorstellungen von den Ursachen von Massenpaniken haben. Deshalb passieren sie auch immer wieder.
Was hat also die Katastrophe in Duisburg verursacht?
Helbing: Wir haben das Gleiche herausgefunden, wie bei unserer Analyse eines früheren Unglücks bei einem Haddsch, einer muslimische Pilgerfahrt nach Mekka. Wenn die Personendichte zu hoch wird, kommt es zwangsläufig zu Körperkontakt. Dadurch werden Kräfte übertragen von einem Körper zum anderen. Menschen nehmen das als Drängeln wahr. Aber was die Sache schlimmer macht ist, dass die Kräfte sich summieren und stark variieren in unvorhersehbarer Weise. Bei dem Phänomen, ?crowd turbulence? (Massenturbulenz) oder ?crowd quake? genannt, entstehen erdbebenartige Schockwellen in der Menge, die es schwierig machen, sich überhaupt noch auf den Beinen halten zu können. Wenn Menschen stolpern und zu Boden fallen, setzt ein Dominoeffekt ein. Immer mehr Menschen fallen aufeinander. Jene, die am Boden liegen, kriegen schwer Luft und ersticken letztendlich.
Das heißt, dass diese Dynamiken nicht kontrolliert werden können, nicht mal durch eine größere Zahl von Sicherheitskräften oder Polizei?
Helbing: Genau so ist es. Wenn sich viele Menschen an einem Ort versammeln und die Dichte ein gewisses Maß erreicht hat, kann die Situation früher oder später außer Kontrolle geraten. Wir kennen ein ähnliches Phänomen aus dem Straßenverkehr. Stellen Sie sich eine Gruppe von Fahrzeugen vor, die in einem Kreis fahren. Wenn die Dichte in dem Kreisverkehr zu groß ist, wird der Verkehr zusammenbrechen und Autofahrer werden durch ?phantom traffic jams? (Scheinstau) aufgehalten, sogar wenn sie sehr erfahren sind und versuchen, das zu verhindern. Wenn Sie die Fahrer fragen würden, was passiert ist, würden sie sagen: ?Da war ein bekloppter Fahrer vor mir, der keine Ahnung vom Auto fahren hatte.?
Und das ist nicht der Grund?
Helbing: Nein, es ist die Unbeständigkeit von Verkehrsströmen, die einen Zusammenbruch verursachen. Wenn die Dichte ein gewisses Maß erreicht hat, dann wird jede kleine Schwankung im Autofluss verstärkt. Eine leicht verzögerte Reaktion eines Fahrers wegen der Reaktionszeit, erfordert ein stärkeres Abbremsen des nachfolgenden Autos und das nächste wird noch stärker bremsen müssen usw. Diese Kettenreaktion wird schließlich dazu führen, dass Autofahrer anhalten müssen, obwohl das niemand bewusst herbeigeführt hat und wollte.
Das ist überraschend.
Helbing: Ja, und es ist schwer zu verstehen. Aber wir finden ähnliche Arten von Dynamiken in vielen komplexen Systemen. Wenn viele Individuen adaptiv auf einander reagieren, kann das eine nahtlose Selbstorganisation zur Folge haben, wie es Adam Smith für die Wirtschaft in seinem Paradigma der ?unsichtbaren Hand? annahm. Wie auch immer, wenn wir das System zum ?tipping point? (Umkehrpunkt) bringen, kann das ganz unerwartet zu einer absolut anderen Systemreaktion führen.
Wie zum Beispiel?
Helbing: Massenturbulenzen statt geschmeidige und geordnete Menschenströme, zum Beispiel. Oder die Implosion einer Blase auf dem Aktienmarkt, soziale Konflikte, politische Revolutionen oder Kriege. Obwohl es niemand will, kann, wenn eine Systeminstabilität auftaucht, in vielen dieser Fälle die Situation früher oder später außer Kontrolle geraten. Das passiert sogar, obwohl jeder nur die besten Vorsätze hat, viel Erfahrung hat, perfekt ausgerüstet ist und sich echt bemüht, solche Situationen zu vermeiden. Natürlich behaupten wir nicht, dass diese Bedingungen immer erfüllt werden. Offensichtlich sind sie es oft nicht und das macht die Sache nur noch schlimmer.
Heißt das, dass wir nichts gegen Systeminstabilitäten tun können?
Helbing: Nicht wirklich. Systemfehler oder -ausfälle können als institutionale oder prozessuale Ausfälle auftreten. Sie passieren, wenn Institutionen oder Abläufe nicht angemessen vorbereitet oder eingerichtet sind. Wenn allerdings die Wechselwirkungen die Probleme verursachen, müssen wir die Wechselwirkungen ändern!
Was bedeutet das konkret für die Organisation von Massenveranstaltungen?
Helbing: Man sollte auf jeden Fall dichte Ansammlungen von Menschen vermeiden, besonders an Stellen wo sie sich eigentlich bewegen sollten. Dafür braucht man eine geeignete Location, eine adäquate Vorbereitung, einschliesslich Pläne für alle Arten von Notfällen, schnelle Reaktion auf frühe Warnsignale und zuguterletzt gute Informationen und Kommunikation. Man muss auch die ?Gesetze der Masse? berücksichtigen. Menschen sind keine Roboter. Sie haben psychologische, soziale, physiologische und physikalische Bedürfnisse. Zum Beispiel sollte man von ihnen nicht verlangen, lange ohne Essen, Wasser, Toiletten, Informationen und Unterhaltung zu warten.
Das heißt, man sollte Menschenströme nicht versuchen, aufzuhalten?
Helbing: Den Strom anzuhalten verschlimmert oft die Situation. In vielen Fällen ist es besser, die Menschenströme so zu organisieren, dass sie in Bewegung bleiben, wenn auch langsam. Umwege sind eine möglich Lösung. Aber es ist auch wichtig sich kreuzende Ströme und Gegenströme zu verhindern. Sie können ernsthafte Behinderungen bedeuten, so dass die Situation außer Kontrolle gerät.
Das ist, was während der Love Parade passierte?
Helbing: Ja, Probleme resultieren daraus, dass ankommende und gehende Besucher dieselben Wege benutzten und nicht separat kontrolliert werden konnten.
Wie kam es also letztendlich zu dieser überlaufenden Situation?
Helbing: Die ursächlichen Wechselbeziehungen waren sehr komplex. Man muss sich dessen bewusst sein, dass alles was man in wenigen Sätzen erklärt, eine allzu starke Vereinfachung ist. Es scheint, dass das Festivalgelände und die Rampe die dorthin führte, nicht genug Raum bot für alle Besucher, die die Love Parade besuchen wollten. Deshalb hing alles an einer effektiven Massenkontrolle. Aber wenn man den Verlauf der Dinge sich genau betrachtet stößt man auf viele Überraschungen.
Die da wären?
Helbing: Zum Beispiel, Staus von Leuten traten nicht an den engsten Stellen der Rampe auf, wo man sie erwarten würde, sondern am oberen Ende, wo Leute versuchten auf das Festivalgelände zu gelangen. Die Festzugswagen (z.B. die Musikwagen) zogen die Leute nicht wie sie hätten sollen, ?wie ein Magnet?. Es scheint, dass als die Dichte auf dem Festivalgelände ein gewisses Niveau erreicht hatte, hemmte das die Bewegung der Wagen und diese behinderten Zustrom von Leuten.
Und was passierte dann?
Helbing: Ab 15:31 Uhr, als die Rampe überfüllt war, kletterten die Leute über Zäune und benutzten die Hänge auf beiden Seiten der Rampe, um auf das Festivalgelände zu gelangen. Das war durchaus vernünftig. Wenn sie das nicht gemacht hätten, wären die Rampe und der Tunnel sehr schnell verstopft gewesen. Die Situation wäre viel früher eskaliert.
Was hat das ?crowd management? (Massenmanagement) getan?
Helbing: Sie haben versucht, die reinströmenden Massen zu kontrollieren. Sie haben schon zwischen 14:30 und 15:15 Uhr die Polizei um Hilfe gebeten. Das war genau zu der Zeit des Schichtwechsels bei der Polizei. Das heißt, dass die neue Schicht sofort und unerwartet mit einer schwierigen Situation konfrontiert war. Die Polizei versuchte die Ströme mit Absperrketten zu kontrollieren, was nicht wie erwartet funktionierte. Die Ketten stellten sich als uneffektiv heraus und wurden aufgegeben. Im Ergebnis gab es eine große Menschenansammlung auf der Rampe. Die Rampe konnte nicht evakuiert werden, weil die kommenden und gehenden Besucher sich gegenseitig blockierten. Die Leute in der Menge hatten keinen Überblick über die Situation und die Kommunikation mit der Menge war nicht effektiv genug und sie zu leiten.
Menschen waren gefangen auf der Rampe, die total voll war…
Helbing: Ja, genau. Ungefähr ab 16:20 Uhr, versuchten die Menschen von der Rampe runterzukommen, indem sie auf Laternenpfähle, Verkehrszeichen, die Containerbüros der Massenmanager und die engen Treppen kletterten. Anfangs machte das den Eindruck, dass die Masse das Festivalgelänge stürmen würde. In der Tat war es aber ein Zeichen dafür, dass sich eine lebensbedrohliche Situation entwickelte. Gegen 16:35 Uhr tauchten Massenturbulenzen auf und verursachten 10 Minuten später einen Dominoeffekt, so dass sich viele Leute übereinander auftürmten. All das konnte mit Hilfe der Videoaufzeichnungen rekonstruiert werden, die Besucher gemacht und im Internet hochgeladen hatten.
Sie sagen, dass dieses öffentlich zugängliche Material eine neue Ära der citizen science (Staatswissenschaften) und öffentlichen Ermittlungen bedeutet.
Helbing: Ja, als wir die Massenpaniken in der Vergangenheit, während des Haddsch analysierten, war das auf Basis exklusiven Videomaterials. Für die Love Parade-Katastrophe waren alle Beweise die man brauchte, um sich ein Bild von der Ursache zu machen der Öffentlichkeit zugänglich. Das hat uns bei der Studie, mit der wir einBewusstsein für die Ursachen von Massenpaniken und deren Anzeichen erreichen möchten, sehr geholfen. Wir hoffen, dass unsere Studie dabei hilft, in Zukunft sicherere Massenveranstaltungen zu organisieren, zukünftige aufregende Fußballspiele eingeschlossen.
References
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Übersetzung: Elisabeth Gronau
Publikation dieses Interviews mit freundlicher Genehmigung von Dirk Helbing / ETH Zürich
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