In memoriam Friedrich Achleitner

28.03.2019

Im Jahr 1991 hatte ich die große Freude, für das „Moderne Leben“ der ZEIT den wunderbaren Architekturhistoriker, Journalisten und Dichter zu portraitieren. Hier der Text, der im Mai 1991 erschienen ist. Vermittelt von Dietmar Steiner (bei dem ich als Bürogehülfe arbeiten durfte), redigiert von Aloys Behler und wohlwollend gewürdigt von Manfred Sack.

Höhere Form des Wahnsinns
Wie es der österreichische Architekturhistoriker zu Weltruhm bringt

Das Wohnhaus, mit dessen Besichtigung unser Spaziergang beginnen sollte, war einfach nicht zu finden. Schon zweimal war der kleine, ältere Herr die Gasse auf und ab gegangen, immer wieder hatte er das Photo in seiner Hand angesehen. Dann aber blieb er plötzlich stehen und rief lachend: „Das hat man ja weggerissen.“

Daraufhin machte der Architekturhistoriker und -kritiker Friedrich Achleitner mit Bleistift ein paar Krakel auf die Karteikarte des Hauses, das einem nichtssagenden Einkaufszentrum gewichen war, und steckte sie in eine seiner riesigen Jackentaschen. „Ist mir eh ganz recht“, meinte er erleichtert und schob seine Brille hinauf, die ihm dauernd die Nase hinunterrutschte. „Dann muß ich wenigstens nicht entscheiden, ob ich es nehme.“

Um dieses Nehmen sollte es bei der „Begehung“, wie Achleitner seine Wochenendexkursionen gerne nennt, noch unzählige Male gehen. Um die Frage nämlich, ob es das Gebäude im 15. Wiener Gemeindebezirk, dessen Fassade wir hinaufsahen, wert war, in seinen Führer „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“ aufgenommen zu werden. Oder nicht. Und um die Frage, ob der Bau, in dessen Hausflur wir dann hineinlugten, dazu geeignet war, der Sammlung „qualitativer und charakteristischer Bausubstanz Österreichs“ ein Fitzelchen Klarheit hinzuzufügen. Oder nicht.

„International beispielloses Pionierwerk“, „weltbester Führer“ und „Achleitner, die Instanz“: So beginnt bei jedem neuen Band von Achleitners Werk der Jubel von vorne – und zwar weit über Österreichs Grenzen hinaus. 1980, als Band I (Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg) erschien, ebenso wie 1983 mit Band II (Kärnten, Steiermark, Burgenland) und erst recht 1990 mit dem ersten Teil-Band über Wien. Bei den noch folgenden zwei Bänden wird die Begeisterung längst Gewohnheit geworden sein.

Der mittlerweile 61jährige gebürtige Oberösterreicher begann mit seinen Spaziergängen übers Land und durch die Städte vor genau 26 Jahren. Und hat seit damals – neben seinen Brotberufen als Journalist und Hochschullehrer – jedes freie Wochenende, alle Arten von Urlaub und alle verfügbaren Energien in diese Arbeit investiert. Hat jedes der 25 000 Bauwerke aus seiner Kartei mehrfach besichtigt, photographiert und beschrieben; hat seine Texte eigenhändig abgetippt, das Layout entworfen, den Text samt Photos auf den Seitenspiegel geklebt, die fertigen Bände per Bahn zum Salzburger Residenz Verlag transportiert; hat schließlich alle jemals vereinbarten Verlagstermine nach allen Regeln der Hinhaltekunst um Jahre übertroffen – Band I erschien statt 1968 erst 1980.

Und hat bis heute doch erst drei der fünf geplanten Bände geschafft.

„Das ist“ – so bringt es der langjährige Assistent Achleitners Dietmar Steiner auf den Punkt – „eine höhere Form des Wahnsinns, eine Dauerperformance“. Vom Schub der Erinnerung an seine Österreich-Reisen als „Co-Pilot“ Achleitners gepackt, resümiert er dann aber kraftlos: „Das kann man nur mehr mit künstlerischen Kriterien bewerten.“ Er habe den Besessenen nach fünfzehn Jahren Gefolgschaft aus purem Selbsterhaltungstrieb verlassen. Verlassen müssen. Denn die ganze Sache sei letztlich unbeendbar und ihr Betreiber völlig monoman: „Achleitner hat sanfte, subtile und vor allem unbewußte Techniken, seine Umgebung für sein Projekt auszubeuten.“ Befehle seien ausschließlich so erteilt worden: „Glaubst, haben wir noch ein Papier?“ Das habe soviel geheißen wie: „Geh Papier kaufen.“

Auf Fragen nach alledem antwortet der Monomane mit einer Mischung aus fröhlichem Fatalismus und liebenswürdigem Selbstvergessen, dem nichts so fremd ist wie Koketterie: „So ist das eben. Mich macht es nervös, wenn ich jemandem etwas anschaffen muß.“ Achleitner ist auch gar nicht zu helfen, denn er besteht darauf, ausschließlich jene Bauten zu beurteilen, die er mit eigenen Augen gesehen hat. „Ich war zum Beispiel nie in Großbritannien, deshalb habe ich auch in meinen Vorlesungen nie darüber gesprochen.“

Nur bei der Archivarbeit helfe ihm die ganze Nervosität nichts mehr. Da müsse er einfach zulassen, daß er es nicht selber ist, der nach Baumeistern, Auf- und Grundrissen fahndet. Und während er das erzählt, will das Lächeln nicht aus seinem Gesicht verschwinden.

Zumindest am frühen Abend dieses Samstags nicht, als er noch eine halbe Stunde Zeit hat, ins „Café Prückel“ zu gehen. Danach will er noch in der gegenüberliegenden Hochschule für angewandte Kunst „vorbeischauen“.

Dort ist Achleitner seit 1983 Vorstand der Lehrkanzel für „Geschichte und Theorie der Architektur“. Und dort ist auch ein Teil seiner Kartei zu finden, die Schubladen mit den Grundrissen, die Photosammlung und der große Stadtplan mit den buntgefleckten Bezirken. Es ist Achleitners Basislager, das ihm beim „schwierigsten Teil“ seiner Arbeit hilft, der Auswahl der Objekte und dem Schreiben der Texte. „Ich versuche, mit Vergleichen zu arbeiten“, sagt er, „dafür ist die Kartei mit den Photos das beste Instrument.“ Nur damit könne er jene 5000 Bauten, die pro Band zusammenkommen, auf die Hälfte reduzieren. Ein Computer helfe da gar nichts.

Architekturkritik müsse, hat Achleitner 1984 gesagt, als ihm der Staatspreis für Kulturpublizistik verliehen worden ist, „bedingungslos für die Qualität oder, etwas pathetisch ausgedrückt, die Wahrheit“ Partei ergreifen. So will er jene Bauten versammeln, die „kulturhistorische Informationen“ über Österreich liefern. Wozu für ihn öffentliche Bedürfnisanstalten ebenso gehören wie Flaktürme, Elektrizitätswerke und Straßenbahnremisen.

Kaum beginnt Achleitner in seiner Kartei zu blättern, gerät er, wie er erzählt, in einen „Zeitstau“. Begegnet sich selbst als zornigem jungen Mann, für den fast alle Architekten der fünfziger Jahre Feinde waren – während er sie heute durchaus schätzt. Das gilt etwa für Clemens Holzmeister, bei dem Achleitner drei Jahre lang in Wien studiert hat. „Es ist“, schüttelt er amüsiert den Kopf, „direkt eine perverse Situation, daß ich die eigene Jugend als Geschichte serviert bekomme.“

Und da er am eigenen Leib erfahren hat, wie Geschichte gemacht wird, bezieht er seine Subjektivität, den „Zeitgeist“ in alle Urteile mit ein. „Wer im Besitze der Wahrheit zu sein glaubt, ist ohnehin verloren“, sagt er. Man könne für Qualität nur kämpfen „mit dem vollen Risiko des Irrtums“. Früher oder später würden seine Bücher ohnehin von jemand anderem umgeschrieben.

Das Resultat dieser Irrtumstheorie sind Texte, deren Prägnanz und Schärfe, deren Mischung aus Wissenschaft und Feuilleton begeistern. So spöttelt Achleitner 1990 über die Wiener und das von Hans Hollein entworfene Haas-Haus, den Glaspalast am Wiener Stephansplatz: „Sollte es nicht stutzig machen, daß man kurz vor der Fertigstellung des Baus kaum einen Menschen trifft, der das Haus akzeptiert? Auf gut wienerisch müßte man darauf mit dem Satz reagieren: ‚Na, so gut ist es auch wieder nicht.‘“ Den Skandalbau des neuen Allgemeinen Krankenhauses in Wien fertigt Achleitner in wenigen Zeilen ab, räumt dafür der Würdigung des Nachtclubs „Moulin Rouge“ doppelt soviel Platz ein, plus Photo: „Ein Stück stadtgeschichtlichen Widerstands“, von einem Namenlosen entworfen. Er selbst taucht nur einmal in seinem Werk auf: 1956 hatte er zusammen mit einem Architektenkollegen den Innenraum einer Kirche in Wien-Hetzendorf umgestaltet. Der Rest sei „Verwandtschaftsarchitektur“, sagt er – ein paar Einfamilienhäuser für seine nähere Umgebung – bevor ihn die Literatur packte.

Mitte der fünfziger Jahre war Achleitner zur legendären Wiener Gruppe mit H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener gestoßen, lebte als freischaffender Literat. Doch 1962 nahm er das Angebot der Wiener Tageszeitung Die Presse an und schrieb zehn Jahre lang Architekturkritiken.

Unsere halbe Stunde im „Café Prückel“ sollte nicht reichen. Während die Batterie des Tonbandes immer schwächer wurde, hörten wir Schnurre um Schnurre aus der Publikationsgeschichte: wie aus dem Bändchen für die Jackettasche fünf je 500 Seiten starke Bücher werden sollten; von den jahrelangen nervenden Anrufen des Verlags und von den „besonders lieben Freunden“, die gesagt haben, er solle doch gleich alle in Österreich jemals erbauten Objekte in seinen Führer aufnehmen. Es sei ohnehin schon alles egal.

Irgendwann freilich verging selbst Achleitner an diesem Samstagabend das Lachen. Da sagt er: „Ich möchte nicht gerade behaupten, daß ich verzweifle, aber ich bin manchmal müde und habe depressive Phasen. Das Projekt ist schon eine zentrale Sache meines Lebens.“ Pause. „Deshalb möchte ich wegkommen davon.“

„Wegkommen“, sagte Achleitner, genauso wie Menschen sagen, sie würden gerne von der Flasche „wegkommen“.

Während Achleitner am zweiten Wien-Führer schreibt (Erscheinungsdatum 1993) und sich den Kopf über den letzten Band zerbricht, der das Bundesland Niederösterreich behandeln soll, altern die bereits erschienenen Teile rasch: „Um den Führer von 1980 tut es mir echt leid – der Bauboom, manches ist unbewertet, vieles fehlt ganz.“ Erst vor einem Jahr habe er plötzlich die rettende Idee gehabt. Eine Idee, die ihn wieder zum Lachen bringt: „Ich bin draufgekommen, daß mein Thema auf das 20. Jahrhundert begrenzt ist. Und das endet in garantiert neun Jahren. Da kann mir dann keiner mehr etwas dazubauen.“

Er habe mit dem Architekten Wilhelm Holzbauer gewettet, „daß ich noch fünf Jahre lang alle Bände auf den letzten Stand bringe und dann das Projekt abschließe.“ Und, so freut er sich heute schon auf das Jahr 2005, in dem er 75 Jahre alt sein wird, „dann ist Schluß“.

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